26.03.2018 - 15:43
„Du übertreibst“, sagtest Du, als ich Dir erklärte, dass es mit der Unabhängigkeit Kataloniens jetzt ernst werde und dass es keinen Weg zurück mehr gebe, dass es nur noch eine Frage der Zeit sei. Du warst natürlich nicht der Einzige, der mir das sagte. Zehn Jahre sind schon seit diesen Gesprächen – immer bei einem Weißbier – an verschiedenen Orten Berlins vergangen. Noch gab es das Urteil gegen das Statut von Katalonien von 2010 nicht, aber man sah bereits, dass tausende Katalanen begonnen hatten, sich von Madrid zu lösen, und im Kopf unabhängig geworden waren. In ihrem Personalausweis stand zwar und steht noch immer, dass sie Spanier seien, aber nicht nur fühlten sie sich nicht mehr so, sondern handelten auch nicht mehr so.
Viel Wasser ist seither den Ebro hinabgeflossen, die katalanische Gesellschaft hat sich enorm weiterentwickelt und ihr Präsident hat diese Nacht in einem deutschen Gefängnis verbracht. Man sagt, manchmal passiert mehr in einem Jahrzehnt als in einem Jahrhundert. Wir haben immer wieder darüber gesprochen, wenn wir uns getroffen haben, in Deutschland oder in Katalonien, oder in den EMails, die wir uns geschrieben haben. Die Souveränitätsbewegung wird immer breiter und stabiler und hat eine Organisationskapazität und eine Widerstandsfähigkeit erreicht, die alle überraschen, die – wie Du – sich ihr unvoreingenommen genähert haben. Du bist ein Auslandsjournalist, reist ununterbrochen und hast es mir oftmals gesagt: Nirgendwo auf der ganzen Welt gebe es zurzeit eine Kapazität der sozialen und politischen Mobilisierung wie in Katalonien.
Ich habe Dir auch immer gesagt, wenn wir so weit gekommen sind, wie wir gekommen sind, ist es nicht nur aufgrund dessen, was wir richtig gemacht haben. Es stimmt, dass die Bevölkerung die Dinge immer klarer sieht, und am 1. Oktober des Vorjahrs bewies sie dies durch die Organisation und Verteidigung eines Unabhängigkeitsreferendums gegenüber einem Staat, der alle – wirklich nicht wenige – Mittel einsetzte, um sie zu verhindern. Schließlich entschloss sich der Staat, der unfähig war, sie mit legalen Mitteln zu verhindern, und genauso unfähig war, die Wahlurnen und das restliche logistische Material zu konfiszieren, der Welt seine Ohnmacht in Form einer wütenden Polizeigewalt gegen wehrlose Wähler zu zeigen. Wenn die Argumente ausgehen, bleibt die Gewalt übrig. Du warst hier, Du sahst es mit eigenen Augen und schildertest es Deinen Lesern.
Es stimmt natürlich auch, dass die unabhängigkeitsbefürwortenden politischen Parteien nicht immer auf der Höhe des historischen Moments waren und sich zu oft in unverständliche und unverzeihliche Hahnenkämpfe verzettelt haben, das Projekt in Gefahr gebracht haben und die Geduld der Bürger auf die Probe gestellt haben. Aber dann ist jedes Mal der spanische Staat auf den Plan getreten und hat mit einem Urteil oder einer Maßnahme wieder einige tausende Unabhängigkeitsbefürworter mehr produziert und die Parteien geeint. Die Stiftung der CDU hat es öffentlich gesagt, und Dir haben es Politiker aller Couleur des Bundestags bestätigt: Die Strategie von Rajoy ist unverständlich und es ist offensichtlich, dass er das katalanische Problem mit Richtern und Polizei allein nicht lösen wird.
Nun schaut Katalonien plötzlich nach Deutschland und weiß nicht recht, was es erwarten soll: Seit gestern die deutsche Polizei den Präsidenten Carles Puigdemont in der Nähe der dänischen Grenze, 300 Kilometer von Berlin, verhaftet hat, ist die politische Temperatur des Landes um einige Grade gestiegen. Tausende Demonstranten waren auf der Straße und ließen ihre Rufe nach Freiheit hören. Sie riefen auch “Jetzt reicht’s!”. Vielleicht ist es dieser Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Wir werden es sehen. Dieses Mal waren es nicht mehr zu 100 % friedliche Proteste, es gab Zusammenstöße mit der Polizei und einige – wenn auch kleinere – Zwischenfälle. Oft habe ich Dir gesagt, dass die indirekte Botschaft der EU und ihrer Mitgliedstaaten sehr gefährlich sei, weil sie die Leute am Ende so verstehen, dass der Kosovo mehr Möglichkeiten auf Unabhängigkeit hat als Katalonien.
Im Liceu, der ehrwürdigen Oper Barcelonas, gab es auch Rufe nach “Freiheit für die politischen Gefangenen!”, und die sozialen Netzwerke glühten bis in die frühen Morgenstunden. Der flämische Anwalt von Puigdemont sagte es sehr deutlich: Spanien sei zu einer Diktatur geworden, weil es Menschen aufgrund ihrer politischen Ideen ins Gefängnis werfe, und die Art der Nutzung des internationalen Haftbefehls habe nichts mit einem Rechtsstaat zu tun. Renommierte internationale Journalisten haben klar gegen die Auslieferung von Puigdemont Stellung bezogen. In Deutschland gibt es im Gegensatz zu Spanien die Gewaltentrennung wirklich, weshalb man abwarten muss, was der Richter entscheidet.
Als gestern die Verhaftung Puigdemonts bekannt wurde, konnten sich viele von uns nicht helfen, an die Verhaftung von Lluís Companys in Frankreich durch die Gestapo im Jahr 1940 zu denken. Der damalige Präsident Kataloniens wurde dem Franco-Regime ausgeliefert und in Barcelona standrechtlich erschossen. Ich kenne Dich und weiß, dass Du diesen Vergleich für fehl am Platz halten wirst. Natürlich ist Deutschland nicht Nazi-Deutschland und Spanien ist auch nicht ganz das franquistische Spanien, obwohl es keine großen Anstrengungen gemacht hat, sich davon zu distanzieren, und ein latenter Franquismus bestehen geblieben ist, Ergebnis dessen, dass die Transition und nicht der Bruch gewählt wurde. Die Stiftung Francisco Franco, das Valle de los Caídos und tausende Tote, die schändlich in Straßengräben verscharrt sind… Dir als Deutschem muss ich nicht mehr sagen. Wir werden sehen, welche Entscheidung Deutschland 78 Jahre danach trifft. Während wir lesen, dass die Gefangenen Puigdemont mit dem Ruf “Freiheit!” begrüßten, gab es in Spanien viele, die die Verhaftung feierten.